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Title
Konturen von Ordnung. Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Julia Angster, Eckart Conze, Fernando Esposito und Silke Mende


Author(s)
Doering-Manteuffel, Anselm
Series
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Published
Berlin 2019: de Gruyter
Extent
XV, 451 S.
Price
€ 79,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Peter-Paul Bänziger, Departement Geschichte, Universität Basel

Keine Festschrift wollten sie Anselm Doering-Manteuffel zum 70. Geburtstag vorlegen, betonen die vier Herausgeberinnen und Herausgeber, aber doch eine Würdigung. Sie entschieden sich für eine „Werkschau“ (S. XV), die die Arbeiten des Geehrten aus den vergangenen gut zwei Jahrzehnten präsentiert. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste enthält Texte, die sich auf das ganze 20. Jahrhundert beziehen. Die Teile zwei und drei nehmen jeweils eine Jahrhunderthälfte in den Blick. Da man im Rahmen einer Rezension der Breite von Doering-Manteuffels Arbeiten unmöglich gerecht werden kann und vieles den Leserinnen und Lesern bereits vertraut sein dürfte, beschränke ich mich hier auf die Diskussion einiger jener Themen und Periodisierungsvorschläge, denen der Tübinger Historiker seine Bekanntheit hauptsächlich verdankt: der Geschichte von Ordnungsvorstellungen und ihrer zeitlichen Abfolge.

Wo er die Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts betrachtet, unterscheidet Doering-Manteuffel drei sich überlagernde Phasen („Zeitbögen“). Die erste setzte im späten 19. Jahrhundert ein und dauerte bis etwa 1950. Die dominierenden Ordnungsvorstellungen waren gekennzeichnet durch eine Abkehr vom liberalen Fortschrittsdenken und vom Historismus. An deren Stelle trat eine kulturpessimistische Modernekritik, für die besonders der Antihistorismus steht: Zunehmend wurde ein Verständnis von Vergangenheit gepflegt, das „keine rational nachvollziehbare, geschichtslogische Verbindung zum Hier und Heute“ aufwies und sich auf eine mythische, vorindustrielle Welt bezog (S. 170). Wie Doering-Manteuffel betont, handelte es sich bei diesen Phänomenen letztlich um „angstvolle“ Reaktionen des Bürgertums auf die damalige Gegenwart (S. 166). Im Einklang mit einem Großteil der bisherigen Forschung tendiert der Verfasser dazu, diese Krise des Bürgertums als prägendes Zeichen der Jahrzehnte um 1900 zu verstehen. Damit gerät indessen der Umstand aus dem Blick, dass keineswegs überall Krisenstimmung herrschte. Zugleich stellt sich die Frage, ob der Liberalismus und die Betonung der „Freiheit des Subjekts“ (S. 38) tatsächlich die zentralen Gestirne am bürgerlichen Wertehimmel des 19. Jahrhunderts waren. Auf jeden Fall sollten die Kontinuitäten – nicht zuletzt die bürgerliche Kritik am „Laissez-faire-Prinzip“ und am „Gewinnstreben“ (S. 106) – stärker hervorgehoben werden. Deutlich hingegen verweist Doering-Manteuffel auf Verbindungen zwischen Antihistorismus und Nationalsozialismus. Ersterer habe nicht nur großen Einfluss auf das völkische Denken gehabt, sondern darüber hinaus die Akzeptanz der nationalsozialistischen Ideologie unter Akademikerinnen und Akademikern sowie im nationalen Lager gefördert (zu dem auch viele Forscherinnen und Forscher zählten).

Ab den frühen 1930er-Jahren lässt sich der Aufstieg von Ordnungsvorstellungen erkennen, die nach Doering-Manteuffel typisch für die zweite Phase sind. Sie waren von einem wiederbelebten Fortschrittsdenken geprägt, das auf der Idee der Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse basierte. Sozialpolitisch dominierten Vorstellungen der „sozialen Demokratie“ bzw. des „sozialen Liberalismus“. Im Unterschied zum Liberalismus des 19. Jahrhunderts betonte dieser die Wichtigkeit des Konsenses zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Er strebte eine kapitalistische Wirtschaft an, deren Produktivität allen zugutekommen sollte: „Freiheit, Recht, Eigentum – also Marktwirtschaft – und pursuit of happiness“ (S. 368, dortige Hervorhebung). Der Staat hatte dabei nicht nur die Kompetenz, sondern geradezu die Pflicht zur Steuerung. Diese Ordnungsvorstellungen waren ein zentrales Resultat jenes atlantischen Transfer- und Austauschprozesses, für den der von Doering-Manteuffel mitgeprägte Begriff der Westernisierung steht.1 Im Unterschied zur monodirektional verlaufenden Amerikanisierung, wie man sie etwa bei Konsumpraktiken finden kann, ist damit „die allmähliche Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantik“ gemeint (S. 360).

Zwar waren die USA seit dem Ersten Weltkrieg sukzessive zur Hegemonialmacht aufgestiegen. Sie waren jedoch keineswegs unabhängig von Einflüssen aus Europa, die besonders die deutschen Emigrantinnen und Emigranten der 1930er- und 1940er-Jahre verkörperten. Seinen Erfolg verdankte der „Westen“ nicht nur der Abkehr dieser Personengruppe vom Sozialismus und der US-amerikanischen Hinwendung zum (Sozial-)Staat. Wichtig war auch der grundsätzliche Antagonismus zum sowjetischen Ordnungsmodell im Kontext des Kalten Kriegs. Bei dessen Beschreibung tendiert Doering-Manteuffel einerseits dazu, dem „Westen“ das Ordnungsmodell der „planwirtschaftlichen Vergesellschaftung, Negation persönlicher Freiheit und Einparteiendiktatur“ gegenüberzustellen (S. 46). Andererseits betont er die Gemeinsamkeiten, wie sie etwa im Planungsdenken zu finden sind. Zudem weist er darauf hin, dass sich das „Stereotyp ‚Westen‘ keineswegs mit den gesellschaftlichen Realitäten der ‚freien Welt‘ decken mußte“ (S. 340).

Neben dem Keynesianismus, argumentiert Doering-Manteuffel aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive, waren die Jahre des Nachkriegsbooms durch das „fordistische[] Produktionsregime“ bestimmt (S. 408). Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Beschreibung der dritten Phase, der Zeit „nach dem Boom“, in vielerlei Hinsicht an die Debatten über den Postfordismus erinnert. Anders als bei den ersten beiden Jahrhundertdritteln basiert die Argumentation hier allgemein stark auf wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen. Dies wird auch explizit thematisiert, wenn im letzten, gemeinsam mit Lutz Raphael verfassten Kapitel vom „letztlich politökonomischen Konzept des Strukturbruchs“ die Rede ist (S. 434). Weitere Referenzen für die These eines Bruchs sind Forschungen zur Geschichte des Neoliberalismus sowie zum Wandel von Produktion und Arbeitswelt. Für Letztere stehen insbesondere die Digitalisierung und das von Ulrich Bröckling beschriebene Menschenbild des „unternehmerischen Selbst“. Vergleichsweise knapp werden die soziokulturellen Veränderungen der dritten Phase beschrieben. Die Ausführungen kreisen hier erneut um den Begriff der Freiheit: vom Ausbruch aus den engen Verhältnissen der Nachkriegszeit bis zum heutigen Lob der Mobilität.

Die Thesen Doering-Manteuffels und Raphaels sind in den vergangenen Jahren breit diskutiert und verschiedentlich auch kritisiert worden. So ist etwa fraglich, ob krisengebeutelte Branchen wie die Montan- und die Textilindustrie für die gesamte Wirtschaft stehen können. Sie genossen in der Historiografie lange einen Vorrang, was aber nicht mit ihrer realen Bedeutung verwechselt werden sollte. Doering-Manteuffel und Raphael sprechen denn auch selbst von „branchenspezifischen, regionalen Krisenphänomene[n]“. Zugleich weisen sie darauf hin, dass „[g]roße Teile der Gesellschaft der Bundesrepublik wie auch der westlichen Nachbarländer und Großbritanniens [...] sich von dem Geschehen nur bedingt betroffen“ fühlten. Man habe weiterhin auf steigenden Wohlstand und auf den Sozialstaat vertraut und „intensiver denn je“ konsumiert (S. 426).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso Doering-Manteuffel und Raphael trotz allem an der Rede von Revolution und Bruch festhalten. Die Antwort ist eindeutig: „Wer von einem Strukturbruch und von einem Wandel revolutionärer Gestalt spricht, tut dies vor dem Hintergrund gegenwärtiger Problemwahrnehmungen.“ (S. 439) Gemeint sind die vielfältigen Krisenerscheinungen der sozial-liberalen Demokratie, für die Finanzmarktkapitalismus, Shareholder-Denken, Privatisierungen, Wahlabstinenz etc. stehen: „Unter dem Signum der Freiheit sind seit 1980 die meisten Sicherungssplinte aus dem internationalen Finanzsystem entfernt worden. […] Die Effekte neoliberaler makroökonomischer Praxis haben dazu geführt, dass eine gewaltige Umverteilung des Volkseinkommens von unten nach oben eingeleitet wurde und dadurch auf diesem Weg der Konsens widerrufen worden ist.“ (S. 440; dortige Hervorhebungen)

Die klare Abgrenzung des heutigen Kapitalismus vom Konsenskapitalismus der Nachkriegszeit stellt also (auch) eine politische Intervention dar. Man kann ihr durchaus mit Sympathie begegnen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist jedoch zu diskutieren, ob damit nicht die Zeiträume vor und nach dem „Strukturbruch“ jeweils zu sehr homogenisiert werden. Diese Gefahr besteht besonders deshalb, weil für die Zeit des Nachkriegsbooms nicht in vergleichbarem Maße nach „Kontinuität und Wandel“ gefragt wird (S. 430). Dass diese Formel auch hier gilt, zeigen indessen die entsprechenden Kapitel. Da die Texte zum Boom und zur Zeit danach im selben Buchteil enthalten sind, legt die Struktur des Bandes eine solche Sichtweise gleichsam nahe. Im ersten Kapitel verweist Doering-Manteuffel auch selbst auf die oftmals jahrzehntelangen Überlagerungen von Ordnungsvorstellungen. Wenn er dabei das ganze Jahrhundert in den Blick nimmt, kann man dies als Aufforderung verstehen, neben den Brüchen auch nach den Gemeinsamkeiten zu suchen. Ein Beispiel dafür sind jene Ideen einer sozialen Demokratie, als deren Sympathisant sich der Autor immer wieder zu erkennen gibt.

Die gesammelten Aufsätze aus den Jahren 1995 bis 2018 lassen sich als je eigenständige und nicht immer reibungslos aufeinander abgestimmte Vorstudien zu Anselm Doering-Manteuffels geplanter Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert lesen. Man darf gespannt sein, wie er die verschiedenen Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Forschungsdiskussionen in den größeren Zusammenhang einer Monografie einbauen wird.

Anmerkung:
1 Als Überblick siehe Anselm Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.08.2019, http://docupedia.de/zg/Doering-Manteuffel_amerikanisierung_v2_de_2019 (07.12.2019).